Bei Sehnsucht und Hunger wird mit dem Begriff des Pegelessens ein Phänomen beschrieben, das so in der klassischen psychiatrischen Klassifizierung nicht zu finden ist.
Er ist angelehnt an den Begriff des „Spiegeltrinkens“ bei alkoholkranken Menschen. Auch wenn es einige Unterschiede zwischen beidem gibt, ist hier die Gemeinsamkeit, ein (Sättigungs-)Level halten zu müssen, um mit bestimmten unaushaltbaren Emotionen nicht in Kontakt kommen zu müssen.
Pegelesser*innen haben – über den Tag verteilt – einen einzigen Essanfall, wenn auch mit kleineren Portionen.
Ein Empfinden von körperlichem Hunger als einem basalen Bedürfnis des Menschen triggert bei Pegelesser*innen sehr stark verletzte Ich-Seiten und bringt sie so in Kontakt mit einer innerpsychischen Bedürftigkeit, die aufgrund biografischer Erfahrungen sehr negativ besetzt ist und nicht gezeigt und auch nicht gefühlt werden darf. Pegelessen dient der Vermeidung dieser „Gefahr“ und sorgt (vordergründig) dafür, einen inneren Abstand wahren zu können.
Pegelessen ist daher eine Reaktion auf sehr belastende – manchmal unaushaltbare Kindheitserfahrungen, die mit vielen Kränkungen und Verletzungen einhergegangen sind. Sie sind Ausdruck einer innerpsychischen Dynamik, die infolge von Anpassungsleistungen des Gehirns und der Psyche entstanden sind.
Mithilfe der „emotionalen Selbstbegleitung“, die bei Sehnsucht und Hunger gelehrt wird, können Pegelesser*innen diese Schutzmechanismen achtsam in den Blick nehmen, den emotionalen (und körperlichen) Spannungen, die damit verbunden sind, einen Ausdruck geben und sich so den eigenen verletzten Seiten behutsam nähern. So verliert das Symptom „emotionales Essen“ und in dessen Folge das Pegelessen nach und nach seine Funktion und wird abgelöst durch eine emotionale Hinwendung zu sich selbst durch den Aufbau einer erwachsenen liebevollen Instanz, die das kann.
Textversion des Videos
Einen schönen guten Tag! Hallo und herzlich willkommen zu einer weiteren Folge von Maria Sanchez Live.
Woher kommt der Begriff „Pegelessen“?
Die Pegelesserinnen oder die Pegelesser – das ist ein Begriff – das Pegelessen ist ein Begriff, den ich vor vielen Jahren nicht in meiner Essenskampfzeit, sondern ein bisschen später, als ich angefangen habe als Therapeutin zu arbeiten, eingeführt habe. Da ist mir aufgefallen, dass es Menschen gibt, die in Anlehnung … oder ähnlich wie die Spiegeltrinker – so muss ich es sagen – ähnlich wie die Spiegeltrinker sich die ganze Zeit auf einem Sättigungslevel halten. Sie müssen so und so viel Nahrung zu sich nehmen, um sich auf einem Sättigungslevel halten zu können, um bestimmte Emotionen abdämpfen zu können. Und natürlich gibt es Unterschiede zwischen einer Alkoholsucht und einer Suchtstruktur des emotionalen Essens. Das ist ganz klar. Aber es gibt auch bestimmte Bereiche, wo es Parallelen gibt und in Bezug auf dieses Level, was gehalten wird, da glaube ich, kann man die Parallele schon ziehen. Und als ich damals als Therapeutin mit Klienten und Klientinnen zu tun hatte, wo dieses Phänomen auftauchte, da war für mich klar: Hier braucht es irgendwie eine eigene Gruppe. Das Thema „Emotionales Essen“ ist ja vielschichtig, und es gibt die ganz traditionellen, die psychiatrischen Klassifizierungen bei einer Essproblematik, die Einstufung. Und aus meiner Sicht brauchte es da noch eine Erweiterung von dem, was ich in der Praxis erlebt habe, und eine Erweiterung war eben die Gruppe der Pegelesserinnen und Pegelesser. Ich sage da gleich auf jeden Fall noch ein paar Worte natürlich mehr zu.
Ich möchte aber gern noch vorweg sagen: Das Thema „Emotionales Essen“ ist ja ein vielschichtiges Thema, und es beinhaltet und umfasst wirklich viele Aspekte. Es gibt nicht nur einen Grund, warum wir emotional essen. Es gibt ganz unterschiedliche Gründe, warum eine Person emotional isst. Manchmal ist ein Aspekt für sie, für diese Person leichter zugänglich und andere Aspekte, die laufen mehr unterm Radar. Und natürlich betrifft das auch das Pegelessen. Beim Pegelessen gibt es nicht nur einen Aspekt, sondern auch das Pegelessen als Teil des emotionalen Essproblems ist vielschichtig.
Und heute Abend – jetzt hier – möchte ich einen Aspekt gerne mehr in den Blick nehmen, wissend, dass es noch ganz andere Aspekte gibt, die sicher lohnenswert wären, auch in den Fokus zu nehmen. Aber für heute Abend hier, da geht es mir vor allem um einen Aspekt und den möchte ich gerne etwas mehr erläutern, etwas mehr herausschälen.
Wie äußert sich das Pegelessen?
Pegelesserinnen und Pegelesser sind also emotionale Esserinnen und Esser, die sich, wie ich eben meinte, auf einem bestimmten Sättigungsgrad halten. Normalerweise – oder … ich weiß gar nicht, ob man den Begriff „normalerweise“ hier so verwenden kann – auf jeden Fall ist es sehr häufig so, dass emotionale Esserinnen und emotionale Esser punktuell essen. Das heißt, sie essen zu bestimmten Tageszeiten vermehrt oder sie essen in bestimmten Situationen. Wenn sie eine schwierige Aufgabe zum Beispiel zu erfüllen haben, dann essen sie mehr emotional. Das heißt, es ist eher punktuell, was da in Bezug auf das emotionale Essproblem geschieht. Das ist eine große Gruppe von Menschen, bei denen das emotionale Essproblem sich so zeigt. Bei den Pegelesserinnen und bei den Pegelessern ist das etwas anders. Da ist es nicht punktuell, sondern man könnte sagen, Pegelesser und Pegelesserinnen haben über den Tag verteilt einen einzigen Essanfall.
Müssen es beim Pegelessen immer große Essportionen sein, oder geht es auch mit kleineren?
Oft sind es kleinere Portionen, aber dafür sehr häufig am Tag. Und es ist wichtig, über das Pegelessen Bescheid zu wissen. Aus meiner Sicht kann das sehr dienlich sein, weil wir sonst überhaupt nicht verstehen, es erschließt sich uns nicht, warum manche Menschen sich so schwertun, damit zu warten, bis sie körperlichen Hunger haben. Pegelesserinnen und Pegelesser können das kaum und verstehen sich dann oft auch selbst nicht. Und es gibt ja manchmal in Ratgebern diese Aufforderung „Iss, wenn Du hungrig bist und hör auf, wenn Du satt bist“. Ich habe ja schon in einem meiner Videos gesagt, wie absurd ich das finde und wage wirklich nach wie vor auch zu sagen, dass jemand, der das ernsthaft als Ratschlag gibt, als Empfehlung gibt, dass diese Person mit großer Wahrscheinlichkeit –das wage ich zu sagen – nicht wirklich Erfahrung hat mit starkem Essdruck. Wenn es so einfach wäre, dann würden wir das doch sofort tun. Auch das habe ich ja in einem anderen Video schon mal erwähnt: Kein Mensch leidet freiwillig. Warum sollten wir eine uns peinigende Handlung ständig wiederholen? Das macht gar keinen Sinn. Und das ist wirklich nicht fair, Pegelesserinnen und Pegelessern ihnen einfach nur zu sagen „Du musst Dich mal ein bisschen zusammenreißen, dann klappt das schon“, weil hier ganz andere Gründe unter der Essproblematik liegen.
Wenn Pegelesser und Pegelesserinnen warten, bis sie hungrig werden, dann steigt in ihnen eine Spannung sehr stark an. Und das ist eben keine Sache der Ratio. Die Seiten in uns, die zum Essen greifen – egal ob Pegelesser*innen oder eine andere Form des emotionalen Essens – das sind ja jüngere Persönlichkeitsseiten in uns. Das ist ja nicht die Erwachsene, die genau weiß, wenn ich das und das esse, dann geht es mir schlecht. Das sind jüngere Seiten in uns.
Warum ist es für Pegelesser*innen so schwierig abzuwarten, bis sich der körperliche Hunger meldet?
Und bei den Pegelesserinnen und Pegelessern ist meine Erfahrung zumindest – auch da gibt es natürlich ganz individuelle Ausrichtungen, ja, aber wenn ich das so ein bisschen verallgemeinernd sagen darf, dann ist meine Erfahrung: Pegelesserinnen und Pegelesser können deshalb nicht mit dem Essen warten oder es fällt ihnen sehr schwer zu warten, bis sie hungrig sind, weil der Hunger, das Empfinden von Hunger als ein Bedürfnis, als ein basale Bedürfnis und als ein Bedürfnis, was uns in eine innere Situation bringt, wo wir etwas brauchen, weil diese Erfahrung des. Bedürftigseins, des „Ich brauche etwas“ in der Biografie, in der Lebensgeschichte von vielen Pegelesserinnen und Pegelessern ganz, ganz negativ besetzt ist. Ich könnte auch sagen, in den Bereich des Hungers zu kommen, triggert andere Seiten bei diesen betroffenen Menschen, die ebenfalls eine starke, eine sehr starke Bedürftigkeit haben und die in ihrer Biografie, in der Lebensgeschichte dieser Menschen überhaupt nicht stattfinden durfte. Diese Bedürftigkeit durfte nicht wirklich gezeigt werden. Oder wenn sie gezeigt wurde, dann wurden sie mutterseelenallein gelassen.
Das bedeutet, wenn ich das symbolisch oder wenn ich das bildlich ein bisschen beschreiben würde, dann würde ich sagen: Wenn wir in Richtung Hunger gehen, dann ist das wie eine Tür, die wir öffnen, und in dem Zimmer dahinter sind sehr stark verletzte Ich-Seiten mit einer großen Bedürftigkeit, mit einem Empfinden von Schwachsein, von Zartsein, von Ausgeliefertsein, von Ohnmacht, von Hilflosigkeit. Und damit ich gar nicht erst in die Nähe dieses Zimmers komme, halte ich die Tür die ganze Zeit geschlossen. Ich komme lieber gar nicht erst in den Bereich von Hunger, in die Nähe dieser Tür, sondern ich esse immer schon vorher dagegen an, damit ich diesen Abstand wahren kann. Und es ist wirklich wichtig, das im Blick zu behalten, auch wenn Du eine betroffene Person bist, weil Du sonst nicht nachvollziehen kannst für Dich „Wieso kann ich nicht einfach ein paar Stunden warten, bis ich hungrig bin? Wieso unternehme ich alles Mögliche, um schon vorher etwas zu essen?“
Mit Dir ist überhaupt nichts verkehrt.
Hier gibt es einen Mechanismus, der hat mit dem rein physischen nicht viel zu tun und mit der Ratio auch nicht, mit der mentalen Ebene von der Ratio. Hier ist ganz klar „Du wirst nicht verhungern.“ Hunger ist einfach nur Hunger. Hunger sagt, der Körper braucht Nahrung. Okay, aber auf der emotionalen Ebene – und das ist ja immer die Ebene, die uns Schwierigkeiten macht – da, wo die Verletzung sind, das ist ja die emotionale Ebene. Auf dieser Ebene da gibt es diese Kopplung von Hunger und Bedürftigkeit. Ich könnte auch anders sagen von Hunger und tiefer Verwundung. Wir sind hier in unserer Biografie als emotionale Esserinnen und Esser nicht nur nicht satt geworden. Das ist EIN Aspekt, aber das ist ja nicht der Aspekt, der wirklich Probleme macht. Wenn man von der Seite aus schaut, dann würden wir sagen können – und das wird ja auch leider oft auch so gesagt – also dass es aus meiner Sicht „leider“, weil es aus meiner Sicht zu kurz gedacht ist – wird ja gesagt, wir sind nicht satt geworden, wir müssen das irgendwie nachholen, wie ein Gefäß, was man auffüllen kann, und dann wäre alles in Ordnung. Aber so ist es ja nicht. Das klappt bis zu einem gewissen Punkt. An der Oberfläche funktioniert es bis zu einem gewissen Punkt, aber auf einer tieferen Ebene, wo es um die hartnäckigen chronischen Symptome geht – und bei vielen Menschen ist das emotionale Essen ein sehr hartnäckiges Symptom – da funktioniert das überhaupt nicht. Weil es nicht nur darum geht, dass wir nicht satt geworden sind, sondern es geht um die Verwundungen, die damit einhergegangen sind. Diese Wunden bluten in uns. Das ist keine Zeit, die abgeschlossen ist. Die unerlöste Vergangenheit findet JETZT gerade statt. Immer wenn Essdruck kommt, findet unsere Biografie auf einer Ebene gerade wieder statt und dann kommt es darauf an, wie reagieren wir darauf. Und wenn wir auf das emotionale Essen schauen, dann – oder auch auf andere Verwundungen. Man kann das ja auch analog auf andere Symptome anwenden, deswegen gibt es ja eben nicht nur Sehnsucht und Hunger bei der Wahl der Ausrichtung, die ich anbiete, sondern eben auch EssentialCore, weil man es auf andere Symptome natürlich auch genauso anwenden kann. Aber wenn ich jetzt bei den Pegelessern bleibe, beim emotionalen Essen bleibe, dann bedeutet das, es geht nicht nur darum, dass Du bedürftig warst, dass eine Kopplung von Hunger und Bedürftigkeit da ist. Jetzt musst Du irgendwie schauen, dass Du die Bedürfnisse im Hier und Jetzt stillst und damit hört die Wunde auf zu bluten. Meine Erfahrung ist, dass das nicht reicht. Das ist ein Aspekt.
Aber wenn wir bedürftig waren und wir waren allein, wir waren mutterseelenallein und wir mussten sehen, wie wir irgendwie klarkommen: Wir haben diese unglaublich kreative, tolle Intelligenzleistung, unbewusste Intelligenzleistung vollbracht, dass wir eine Möglichkeit gefunden haben über das Essen, über das emotionale Essen in dem Fall. Jeder Mensch hat seine Möglichkeiten gesucht. Auch Depression oder andere Dinge können eben da ein Mittel sein, ja. Als emotionale Esserinnen und Esser haben wir darüber ein Mittel, eine Möglichkeit gesucht, eine hochkreative Leistung haben wir unbewusst vollbracht, dass wir etwas gefunden haben, eine Essenspille, eine Pille, die uns hilft, mit schwer aushaltbaren Emotionen nicht in Kontakt zu kommen. Diese Tür, von der ich eben sprach, uns gar nicht erst in die Nähe dieser Tür zu bewegen.
Ganz abgesehen davon, wie groß das Leiden ist, denn es ist ja da – das möchte ich auch immer wieder sagen – das ist ja da – daran ist ja nichts zu rütteln – ist es dennoch auf der emotionalen Ebene absolut sinnvoll, was wir tun. Mit Dir als Pegelesserin und Pegelesser, wie ich eben meinte, ist nichts verkehrt. Jetzt geht es nur darum, wie kannst Du Dir auf eine Weise begegnen, dass Du nicht immer wieder in diese Kindschiene rutschst, die keine andere Möglichkeit hat, als vor sich selbst zu fliehen, vor den Emotionen in sich zu fliehen?
Und ich würde Dir gerne zwei Dinge als kleinen ersten Schritt, zwei kleine Elemente an die Hand geben. Aber erst mal ist mir noch mal wichtig, wirklich, dass das das Prinzip verstanden werden kann. Pegelessen bedeutet, Du brauchst ein Medikament – wenn Du das Essen als Medikament sehen könntest, für einen Moment vielleicht als Medikament sehen könntest. Du brauchst dieses Medikament den ganzen Tag. Und es wird erst dann nicht mehr der Fall sein, wenn Du lernst, diesen Seiten in Dir zu begegnen. Es geht nicht nur um Regulation. Es geht nicht um Optimierung: „Was kann ich tun, damit die Tür noch weiter zu bleibt? Oder was kann ich tun, damit sie aufgeht, ich gereinigt, verändere und dann ist alles gut?“ Die Seite, die verändern will, ist nicht die Seite, die verändern kann, weil ihr Antrieb in der Regel Angst ist. Diese Begegnungskompetenz, dass wir wirklich Schritt für Schritt uns annähern können, da braucht es mehr. Das ist keine Sache, die man mal eben in 30 Tagen lernt – so ungefähr – sondern das ist eine Kompetenz, eine Fähigkeit, eine Fertigkeit, die wir entwickeln. Aber wir können lernen, diesen Seiten in uns auf eine sehr tiefe Weise zu begegnen, dass eines Seinsqualität mithineinkommen kann ins Feld, in dieses ganze Verletzungsfeld, dass diese verletzten inneren Kinder wirklich eine neue Erfahrung machen können. Denn wie ich eben meinte, wenn wir in unserer Bedürftigkeit allein gelassen wurden, dann wurde auf einer Ebene unsere Würde angegriffen. Wir waren ja vollkommen hilflos. Das ist nicht nur „Du hast zu wenig Trost bekommen, also füll Dein Gefäß mit Trost“. Das ist ein Aspekt, aber weil Du nicht genug Trost bekommen hast – als Beispiel – haben sich ganz viele Spannungen entwickelt, ganz viele Verletzungsspannungen entwickelt. Und da gibt es bestimmte innere Dynamiken, die daraufhin entstanden sind, und die müssen wir unbedingt mit in den Blick nehmen, sonst wundern wir uns, weil wir denken „Wieso? Ich tröste mich doch, aber ich habe trotzdem die ganze Zeit Essdruck“.
Und bei den Pegelesserinnen und Pegelessern ist es eben so, dass oftmals die ganz basalen Bedürfnisse vernachlässigt wurden an der Stelle. Und wenn wir dem Pegelessen auf eine gute, heilsame Weise begegnen möchten, dann brauchen wir als erstes den Schritt, dass wir uns überhaupt dieser Grenze zum Hunger annähern können. Das ist wichtig, weil immer nur weiter auf der Flucht zu sein, immer nur weiter zu essen, das bedeutet ja, dass die Wunden weiterhin bluten. Wir können aber nicht mit Hauruck da einfach rein. Das klappt vielleicht ein paar Tage mit einer großen Härte gegen uns, aber dann klappt das auch ganz sicher nicht mehr. Sondern das, was es braucht, ist eine behutsame, eine respektvolle Annäherung. So, wie wenn wir eine externe Person kennenlernen möchten. Da ist jemand im Außen und ich denke: „Mal gucken, wer die Person ist.“ Dann nähere ich mich ja nicht mit Härte und brutal und überfalle diese Person, sondern ich klopfe an, ich spüre, ich schaue, ich höre, ich lausche. Ich schaue, dass ich ihr respektvoll begegne, damit ich auch etwas über sie erfahren kann, dass sie mir auch antworten mag und dass sie nicht gleich sich wegdreht und geht. Und genau so ist es mit unseren inneren Seiten auch. Wir verdienen Respekt. Deshalb ist es wichtig, dass wir uns dem Problem, dem Essproblem des Pegelessens auf eine respektvolle, behutsame, achtsame Weise nähern können. Und es kann sein, dass Du merkst, wenn Du Dich dieser Grenze näherst, dass sie zu groß für Dich ist, dass sie Dich überfordert. In dem Falle kann es hilfreich sein, kann es liebevoll sein, dass Du Dir Hilfe holst, dass Du Dir auch therapeutische Hilfe holst.
Nimm Dich wichtig, möchte ich eigentlich gerne sagen. Du verdienst Respekt.
Erste Frage
„Liebe Maria, in einem deiner Bücher habe ich über das Essen bereits gelesen. Nun habe ich mich gefragt: Wie ist es denn, wenn wir mit dem emotionalen Essen erst später in unserem Leben angefangen haben? Heute weiß ich, dass ich früher das war, was Du eine „dünne Dicke“ nennst. Hunger zu haben, hat bei mir früher eher ein Hochgefühl ausgelöst. Heute würde ich mich aber als Pegelesserin bezeichnen. Ich kann überhaupt nicht warten, bis ich Hunger. Ganz gleich, wie oft ich es mir vornehme, es klappt nicht. Kannst Du etwas dazu sagen, wie dieser Wechsel von dünne Dicke zu einer Pegelesserin zu erklären ist?
Ja. Der Begriff „dünne Dicke“, das ist jetzt ein zweiter Begriff, den ich geprägt habe oder den ich erfunden habe für diesen Bereich, den ich kreiert habe für diesen Bereich der Einstufung in Bezug auf Essproblematik. Den habe ich tatsächlich aus meiner eigenen Essenskampfzeit heraus entwickelt. Bei den Pegelessern, wie gesagt, war das mehr aus meiner Arbeit als Therapeutin. Aber bei den dünnen Dicken da war das so, dass ich sehr lange Zeit immer wieder eine dünne Dicke war und dünne Dicke darunter verstehe ich – auch das hatte ich in einem meiner Videos ein bisschen genauer schon erklärt – aber hier um die Frage zu beantworten, macht das, glaube ich, Sinn, das noch mal kurz zu erwähnen. Eine dünne Dicke das ist eine Person, die im Gegensatz zu den natürlich schlanken Menschen, also ich bin heute eine natürlich Schlanke. Ich denke überhaupt nicht übers Essen nach. Das spielt keine Rolle für mich. Ich esse eben, wenn mein Körper mir sagt, ich habe Hunger, und ich lasse es sein, wenn ich merke, ich bin satt, wissend natürlich, jeder Mensch ist auch manchmal ohne Hunger. Es gibt ja auch Genussessen, aber da ist der Unterschied zwischen der emotionalen Notwendigkeit, etwas essen zu müssen, und dem, dass es schön ist, etwas zu essen, aber ich muss es nicht haben. Das Entscheiden ist ja immer die Wahl: Habe ich eine Wahl oder nicht? Und natürlich schlanke Menschen denken nicht darüber nach, was sie essen, ob sie am Abend, wenn sie jetzt mehr essen, was weglassen müssen, ob sie zum Sport gehen müssen, um die Kalorien wieder loszuwerden. Die Kopplung von Essen und Emotion ist in dieser leidvollen Form nicht vorhanden. Bei den dünnen Dicken im Vergleich zu den natürlich Schlanken ist das aber so: Eine dünne dicke Person, eine Person, die zur Gruppe der dünnen Dicken gehört, die denkt die ganze Zeit über ihre Nahrung nach. Beim Essen überlegt sie sich, wie viel Sport muss sie machen, damit das ausgeglichen wird, sie achtet darauf, ob da Zucker drin ist, sie achtet auf die Kalorien – nicht in Bezug auf ihre Gesundheit – das kann ja auch etwas Liebevolles sein – sondern in Bezug auf das Gewicht. Es gibt auch noch Menschen, die haben eine Suchtstruktur, wenn es um Ernährung geht. Das gibt es auch, aber das ist etwas anderes. Bei den dünnen Dicken bedeutet das also: Eigentlich sind diese Menschen immer noch übergewichtig. Von ihrer inneren Struktur, von der Kopplung, von der Kopplung von Essen und Emotion ist das genauso, wie wenn sie eine „dicke Dicke“ wären, eine übergewichtige Person wären. Aber sie halten sich künstlich schlank durch die Reglementierung. Sie halten sich in einem schlanken Kleid, kann ich sagen. Sobald die Reglementierung ein bisschen gelockert würde, würden sie wieder zunehmen. Bei natürlich Schlanken, die nehmen nicht zu. Da hält sich das Gewicht natürlicherweise, weil die Kopplung nicht so stark ist. Die dünnen Dicken brauchen immer Kontrolle und es gibt sehr viele dünne Dicke in unserer Gesellschaft. Und wenn jemand sagt „Ich habe damit kein Problem. Ich gehe sechsmal die Woche zum Sport und ich achte auf das, was ich esse ganz genau. Ich will auf keinen Fall, dass mein Gewicht nach oben geht, aber ich muss mich da disziplinieren.“ Wenn jemand sagt „Ich bin damit nicht fein.“, wunderbar, aber es gibt viele dünne Dicke, die wirklich leiden.
Ich war in meiner Essenskampfzeit, eben wie gesagt, lange Zeit immer wieder eine dünne Dicke mit sehr viel Härte gegen mich, mit sehr viel Disziplin. Und ich war nie frei. Nie. Ich hatte immer, immer Angst, dass ich wieder zunehmen könnte. Ich war nie im Frieden.
Dünne Dicke müssen immer aufpassen. Und wenn Du jetzt schreibst – das nur kurz jetzt, das ist eine dünne Dicke – wenn Du jetzt schreibst, zu Beginn deines Lebens oder in der ersten Zeit warst Du eine dünne Dicke und jetzt bist Du eine Pegelesserin. Wie das vielleicht zu erklären ist, würde mir spontan einfallen: Es ist einfach die Kehrseite der Medaille.
Wenn Du zu Beginn deines Lebens einem bestimmten Vorstellungsbild wie Dein Umfeld wollte, das Du bist – ich nenne es ja auch das geliebte Kind –wenn Du dem entsprechen konntest, wenn Du Anerkennung bekommen hast, wenn Du diesem Bild entsprichst, dann kann es sein, dass Du über die Härte gegen Dich selbst, dieses „Das schaffe ich. Ich habe Hunger, aber ich esse jetzt nicht. Das packe ich. Das schaffe ich. Ich kann mich disziplinieren.“, dass Dir genau das ein Hochgefühl, wie Du schreibst, verschafft hat, weil Du in der Härte gegen Dich selbst, deine Ich-Definition gebildet hast. So ist das bei vielen Menschen, mit denen ich arbeite, bei denen das ähnlich ist, wenn plötzlich was kippt, dass die Ich-Definition sich ganz stark über die Härte ausdrückt. Oder noch anders gesagt … ich ringe noch ein bisschen nach Worten, ihr merkt. Ich könnte es, glaube ich, noch ein bisschen präziser sagen: Das Ich-Empfinden definiert sich über die Härte. So ist es, glaube ich, richtig gesagt oder am treffendsten gesagt. Wenn ich glaube, ich bin hart, ich schaff das, ich kann das, wenn der Kampf bei mir weit vorne liegt, der Krieg gegen mich das ist, wo ich merke, ich kann mich besiegen, dann kann mir das ein Hochgefühl geben.
Das klappt aber nur so lange, solange ich A genug Kraft zur Verfügung habe – und im Laufe des Lebens, wenn ich älter werde, habe ich weniger Kraft ab einem bestimmten Punkt, dann wird es schon schwierig. Und es klappt nur, solange meine Lebensumstände mir nicht zu viel Kraft ziehen. Wenn ich irgendwann Familie habe oder es passiert etwas im Leben, eine Krise, wo Kraft natürlich in andere Kanäle fließt, weil sie dort gebraucht wird, dann steht mir nicht mehr genug Kraft zur Verfügung, um den Krieg gegen mich selbst aufrechtzuerhalten. Und wenn das der Fall ist, kippt die Medaille bei manchen Menschen. Dann sehen wir plötzlich die Kehrseite der Härte. Dann kommen wir in Kontakt mit der Bedürftigkeit, mit dem „Ich kann nicht mehr, es ist mir alles zu viel.“ Und das wiederum triggert dann bestimmte andere Verletzungen in uns, von denen ich vorhin sprach. Diese Tür droht dann aufzugehen, wo ich vorher über Härte, über Disziplin, über Reglementierung, „Das schaffe ich. Ich kann das. Ich beherrsche mein Körper. Ich kontrolliere meinen Körper. Ich kontrolliere mich“, was ja ganz oft gleichzusetzen ist mit dem irrsinnigen Versuch „Ich kontrolliere das Leben“ – wenn wir aber das als Definition für uns haben, dann müssen wir immer ganz weit, dann ist der Krieg das, was wir anwenden, um ganz weit von dieser Tür wegzukommen, von der ich vorhin sprach. Wenn ich aber da ein bisschen nachlasse und plötzlich der Tür näherkomme und ich kann nicht mehr in der Härte gegen mich sein. Ich kann nicht mehr zur dünnen Dicken werden, wenn ich beim emotionalen Essproblem bleibe – das kann man auch wieder auf alles andere anwenden – dann brauche ich ab dem Zeitpunkt, wo ich diese Kraft des Krieges nicht mehr aufwenden kann, brauche ich ab dem Zeitpunkt mehr Essen, sonst geht die Tür auf. Und dann gibt es Menschen, die quasi von der „dünnen Dicken“-Struktur in die „Pegelessen“-Struktur fallen. Es ist nur die Kehrseite der Medaille. Es ist das gleiche Prinzip mit unterschiedlichen Ausprägungen. In beiden Fällen geht es darum „Ich darf nicht in Richtung Tür kommen“.
Zweite Frage
„Glaubst Du nicht, dass das Pegelessen auch damit zusammenhängt, dass das Essen überall heutzutage verfügbar ist? Inwieweit spielt unsere Verführbarkeit eine Rolle?“
Ja, auch eine ganz spannende Frage. Um auf die Frage zu antworten, würde ich gerne ein bisschen ausholen. Denn ich glaube, es gibt verschiedene Möglichkeiten, wie man das Menschsein sieht.
Wir können uns als Menschen in erster Linie darüber definieren, dass wir etwas Tierhaftes haben – wir sind ja Säugetiere –, dass die Biologie eine ganz, ganz entscheidende Rolle in unserem Leben spielt, und dass wir in Anführungsstrichen wie „triebgesteuert“ sind. Das ist eine Möglichkeit, den Menschen zu sehen.
Meine Erfahrung ist eine völlig andere. Meine Erfahrung ist, dass wir natürlich etwas Tierhaftes in uns haben – wir sind Säugetiere – aber dass wir ja im Gegensatz zu anderen Tieren – zumindest von dem, was wir im Augenblick wissen vom Stand der Wissenschaft – dass wir diejenigen sind, die Säugetiere sind, die Bewusstheit haben, die reflektieren können, die sich selbst bezeugen können. Wir haben also nicht nur das Biologische, was wirkt. Wir haben das Emotionale, Mentale und auch das Spirituelle, was wirkt. Wir können aus dem Triebgesteuerten aufwachen. Und für mich gehört zur Menschwerdung das auf jeden Fall dazu. Sonst sind wir einfach nur Tiere. Und das meine ich nicht abwertend. Also Tiere können wunderbar sein und viele Menschen können ja gerade dadurch das diese Bewusstheit da ist, das Tierhafte in sich auf eine sehr destruktive Art leben. Das ist ja dann die dunkle Seite der Medaille.
Aber wenn ich jetzt von Deiner Frage ausgehe, dann glaube ich, nur ein Mensch, der nicht gut mit sich in Kontakt ist, ist verführbar. Wenn wir mit uns gut in Kontakt sind, und das ist ja ein lebenslanger Weg des Menschwerdens. Menschwerden ist ja nicht eine Sache, Punkt, sondern das ist ja ein Entfaltungsprozess, wo wir auf verschiedenen Ebenen uns erleben können, wo wir uns selbst einen Rahmen geben können, dass die unterschiedlichen Levels, die da sind: eben das Biologische – was ja natürlich eine Rolle spielt, gar keine Frage, unser Nervensystem und all das – aber wir sind doch mehr als das, wo eben auch das Transpersonale, wo die Spiritualität mit reinkommt. Wir sind ja zutiefst spirituelle Wesen auch. Wir sind grobe Wesen und wir sind feinstoffliche Wesen. Bei uns verbinden sich die unterschiedlichsten Levels und unterschiedlichsten Bereiche. Und wenn jemand sehr stark in seinem biografischen Schutzprogramm feststeckt, in diesem emotionalen Überlebensprogramm, wie ich es oft nenne, feststeckt, dann ist dieser Mensch vom Automatismus geleitet, von ganz vielen, sehr stark unbewussten Dingen geleitet. Und dann sind wir total verführbar. Aber wenn wir aufwachen, wenn wir aus dem Tierhaften langsam insofern aufwachen, dass wir nicht nur aus diesen Augen herausschauen, sondern dass wir mitbekommen können „Aha, da gibt es eine tierhafte Seite in mir. Okay. Und da gibt es auch noch mehr in mir. Ich bin mehr als das. Ich fühle das. Ich weiß das nicht nur, ich fühle das. Ich erlebe mich multidimensional. Ich erlebe mich in auch in transpersonalen Ebenen. Ich erlebe mich in meinen dichtesten Ebenen, in den gröbsten Ebenen und ich erlebe mich in den feinsten Ebenen, die mir im Augenblick zugänglich sind. Das wächst ja auch immer weiter. Dann sind wir nicht mehr verführbar. Weil dann ein Mensch, der immer mehr aufwacht – ist zumindest meine Erfahrung – da wird etwas zum allerwichtigsten Element, und das ist die eigene Wahrheit. Die Verpflichtung der eigenen Wahrheit gegenüber. Denn das ist gleichgesetzt oder gleichzusetzen mit einer tiefen Verneigung, Verbeugung vor dem Leben. Das ist dann nicht ein Automatismus, der einfach geschieht, etwas Triebhaftes, was einfach geschieht: „Da ist Essen. Na gut, dann esse ich das.“ Sondern das ist ein Aufwachen, ein „Interessant! Jetzt möchte etwas in mir unbedingt das essen. Hmm, was ist das eigentlich in mir?“ Ich bekomme eine Wahl. Und das ist eine vollkommen andere Art zu leben. Es geht nicht darum, dass wir nur irgendwo auf einer Hütte leben und Mantras singen, sondern es geht darum, dass wir im Hier und Jetzt gerade mit den ganzen Verführbarkeiten, mit dem Essen, mit alldem, was da ist – es gibt ja so viele Verführbarkeiten oder Verführungen – dass wir mittendrin leben und dass wir genau da drin mit dem, unserem inneren Weg gehen, den Weg zu uns selbst gehen, den Nachhauseweg gehen. Denn es geht um unsere Wahrheit. Und wenn wir dann eben merken „An der Stelle bin ich verführbar.“ Okay, das macht überhaupt nichts. Es geht ja nicht darum „Oh, Du darfst nicht mehr verführbar sein.“ Völliger Quatsch. Es geht darum, dass es Dir auffällt und dass Du damit in Beziehung treten kannst. Mit der Seite in Dir, die verführbar ist, mit der ist ja nichts verkehrt. Überhaupt nicht. Sehr, sehr, sehr, sehr häufig koppelt ja da sich etwas ganz stark mit unseren Emotionen. Das ist ja das Wesen der Verführbarkeit. Wir erhoffen uns etwas davon. Das ist ja nicht nur biologische Befriedigung, sondern das hat ja eine Wirkung emotional auf uns. Und das bedeutet, etwas in uns ist emotional nicht satt. Nur wenn jemand, wie ich eben meinte, nicht gut in Kontakt ist – ich könnte auch sagen, wenn jemand emotional zu stark ausgehungert ist und das unbewusst bei der Person bleibt, dann ist die Person verführbar. Auf eine problematische Weise verführbar. Deshalb würde ich das, was so oft gesagt wird, dass das Essproblem gewachsen ist, weil mehr Nahrung zur Verfügung steht, das Argument ist für mich sehr schwach, weil ich finde es reduziert uns so, es wird unserem Menschsein aus meiner Sicht überhaupt nicht gerecht. Wir sind so viel mehr als das. SO viel mehr als das.
Ja, vielleicht ist das ein interessantes Thema mal für eine ganze Sendung, denn auch da ließe sich noch eine ganze Menge mehr zu sagen.
So, ihr Lieben, jetzt komme ich langsam zum Ende der heutigen Sendung und bedanke mich sehr für Eure Aufmerksamkeit und hoffe, dass für Euch etwas dabei war, dass ihr Lust habt, Euren Weg forschend für Euch weiterzugehen. Und ich freue mich natürlich auch über Kommentare hier unter dem Video. Wenn ihr mögt, schreibt gerne etwas, wie Euch das Video gefallen hat.
Alles Liebe für Euch. Bis zum nächsten Mal!
Eure Maria Sanchez